Sommernacht

Ich liebe diese schwül heißen Nächte von denen es hier bei uns nur so wenige gibt, dass man sie an einer Hand abzählen kann. Diese Nächte, in denen man nackt und bei geöffnetem Fenster im Bett liegt, der Schweiß in Strömen fließt und an Schlaf nicht zu denken ist. Wenn die feuchten Laken an einem kleben und draußen nur streitende Katzen zu hören sind, deren Miauen klingt, als weinte ein Baby. Kein Lüftchen scheint sich zu bewegen. Kein Mond und kein Stern ist in der milchigen Luft zu sehen. Es ist die Zeit zu träumen.

So lag ich wohl zwei oder drei Stunden und die Gedanken mäanderten durch das weite Tal meiner Erinnerungen. Ich betrachtete sonnige Wiesen und kostete vom süßen Nektar längst vergangener Dinge. Ich spähte in schattige Winkel, wo sich bereits Moos auf den schweren Felsbrocken der Vergangenheit angesetzt hatte; warf kurze Blicke hinter diese oder jede Flußbiegung und entdeckte längst Vergessenes, doch ich verweilte nirgends länger. Synaptische Verbindungen entstanden spontan, Bilder formten sich vor dem inneren Auge und lösten sich kurze Zeit später schon wieder auf, bevor sich ein bewusster Gedanke manifestieren konnte. Irgendwann stand ich auf und ging ins Badezimmer, um einen Schluck aus dem Wasserhahn zu trinken. Das Wasser war kühl und vertrieb die wohlig-schwere Müdigkeit, die mich, wenn auch nicht schlafen, so wenigstens doch dösen ließ. Nun aber war ich hellwach. Ich beschloss auf die Straße hinauszugehen und einen Spaziergang zu machen.

Ich ging durch die menschenleeren Straßen. Der Asphalt strahlte die gespeicherte Hitze des Tages zurück. Mir war, als ginge ich über eine Glut, die tief unter mir loderte. Bereits nach wenigen Minuten kam mir der ehrwürdige Kaplan Winterhalder entgegen. „Es wird Regen geben“ sagte er, ohne ein Wort der Begrüßung oder der Verwunderung, mich hier weit nach Mitternacht zu treffen. „Ja“ entgegnete ich mechanisch. Er trug sein komplettes Ornat als wäre er gerade auf dem Weg zur Ostersonntagsmesse. In der linken Hand hielt er etwas metallisches, dass ich nicht genau erkennen konnte. Das Kreuz, dass an einer silbernen Kette um den Hals baumelte hing verkehrt herum. Und seine Augen, seine Augen waren gerötet. Hatte er geweint? Oder nur dem Meßwein zu sehr zugesprochen? Trotzdem sprach er weiter, im ruhigen Plauderton. „Diese Hitze, schrecklich. Sie macht sei Menschen wahnsinnig. Überall treiben sie es. In Höfen, in Gärten. Auf offener Straße. Schamlos. Wie die Tiere.“

„Da schau an“, dachte ich und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen , „der Herr Kaplan“. Schleicht nachts durch die Straßen, spannt herum und geilt sich daran auf.

Plötzlich sah er mich unwirsch an, als ob er meinen Gedanken gelesen hätte. Er wollte etwas sagen, zögerte aber. Etwas schien verändert. Das ganze Dorf schien mit einem Mal wach zu sein. Ich hörte Wortfetzen, Gemurmel, Stimmen, verstand aber kein Wort davon. Die Trommeln waren zu laut. Sie spielten einen hypnotischen Rhythmus. Ich fühlte mich beobachtet.
„Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine“ sagte er zusammenhanglos. „Warum erzählen Sie mir das alles? Ich bin nur ein Spaziergänger“. „Ich war schon einmal hier, aber das ist lange her. Ich bin es so satt“.
„Was? Den Regen?“
Er funkelte mich an. „Nein, du elender Wurm! Die Dummheit der Menschheit. Nichts hat sie gelernt in 2000 Jahren. Was aber wird sein, wenn der Herbst kommt? Überall riecht es nach menschlichen Überresten. Die Krähen wetzen die Messer, die Geier kreisen.“

Ich fühlte mich unbehaglich und wendete mich ab. Ich wollte gehen. Dies war kein guter Ort. „Was ist mit dir, mein schlafloser Freund?“ rief er mir nach. „Der mir Gesellschaft leistet in dieser besonderen Nacht. Was ist mit dir? Ich habe dich lang nicht mehr gesehen in der Beichte. Du solltest bekennen. Denkst du nicht auch? Die kleine Notlüge am vergangen Samstag, als du deiner Frau verheimlicht hast, dass du gar nicht im Fitnessstudio warst? Oder das Geld, dass du im Keller hortest und von dem sie nichts weiß? Oder dass du träumst? Nacht für Nacht? Von Blut? Von blankem Stahl? Von roher Geilheit? Von penetrierten Ärschen? Von der Nutte, die du jede zweite Woche besuchst und die du bezahlst damit sie dir Nadeln im die Eier sticht?“

„Herr Kaplan“ stammelte ich und drehte mich widerwillig zu ihm um. „Ich muss doch sehr bitten. Sie verwechseln mich!“. Was redete ich nur für einen Unsinn? Wieso redete ich überhaupt mit ihm? Wieso fühlte ich mich eingeschüchtert? Mir wurde schwindlig, die Hitze, der Rhythmus der Trommeln. Das war zu viel. Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken. Um mich herum kreischten alte Weiber in Kittelschürzen und spuckten zornig auf den Boden.

„Schweig!“ fuhr er mich an. Er war gewachsen, und nun bestimmt drei Meter hoch. Er beugte sich zu mir hinab und ich roch den Schwefel in seinem Atem. Mir wurde schlecht. Das Gekreische schwoll zum Orkan. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. „Hast du dir wirklich nie vorgestellt wie es wäre in den Gedärmen einer drallen Zwanzigjährigen zu wühlen? Die Wärme zu spüren, das Pulsieren ihres Blutes.  Wie es wäre…“ er brüllte mich weiter an, doch ich konnte nichts mehr verstehen. Laute Musik drang aus den geöffneten Fenstern. Ein alter Schlager, melancholisch und rau zugleich. Die alten Weiber knöpften sich die Schürzen auf und begannen zu tanzen.

Ich schreckte auf als die ersten Tropfen fielen. Das Glas war mir aus der Hand gerutscht und auf dem Boden in tausend Stücke zerbrochen. Ich war unendlich müde. Es war Zeit schlafen zu gehen.

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